Ein nicht befriedigter Bedarf an medizinischen Leistungen kann die Gesundheit negativ beeinträchtigen. Forschende unter Federführung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) haben Teilnehmende der NAKO Gesundheitsstudie befragt, welche medizinischen Leistungen sie in den letzten 12 Monaten genutzt haben. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verglichen in ihrer Auswertung insbesondere Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Sie fanden dabei heraus, dass Migrantinnen und Migranten, insbesondere der ersten Zuwanderergeneration, seltener psychologische Hilfe in Anspruch nehmen als Menschen ohne Migrationshintergrund. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die Bedürfnisse dieser Personengruppe besser zu verstehen, und ihnen den Zugang zu spezifischen Versorgungsangeboten zu erleichtern.
In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt fast 27 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die sowohl Migranten der ersten als auch der zweiten Generation umfassen. Migrantinnen und Migranten der ersten Generation haben eine ausländische Staatsangehörigkeit oder kommen aus einem ausländischen Geburtsland, während Migranten der zweiten Generation mindestens einen ausländischen oder im Ausland geborenen Elternteil haben, selbst aber keine Zuwanderungserfahrung besitzen. „Obwohl alle EU-Mitgliedstaaten das Recht auf den höchstmöglichen Standard an körperlicher und geistiger Gesundheit anerkennen, haben frühere Studien gezeigt, dass es Ungleichheiten gibt, wie Migranten und Nicht-Migranten Gesundheitsleistungen wahrnehmen. Dies kann bei einem vorhandenen Bedarf an ärztlicher Hilfe zu negativen gesundheitlichen Folgen der betroffenen Menschengruppe führen“, berichtet NAKO Wissenschaftler Professor Dr. Heiko Becher vom Institut für Global Health am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD).
Die der Studie zugrundeliegenden Daten wurden mit einem persönlichen Interview und einem schriftlich auszufüllenden Fragebogen zwischen 2014 und 2019 gesammelt. 35.014 NAKO Teilnehmende mit Migrationshintergrund aus 162 Ländern und 169.626 Nicht-Migranten haben an der Befragung teilgenommen. In der Auswertung berücksichtigten die Forschenden die Vielfalt der verschiedenen Migrantengruppen. Die statistische Analyse vergleicht daher verschiedene Migrantengruppen auf der Grundlage ihres Geburtslandes sowie Migranten der ersten und zweiten Generation und Nicht-Migranten. In der Befragung wurden genutzte ärztliche Leistungen bei Hausärzten, psychiatrischen Diensten und weiteren Fachärzten erfasst.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Migrantinnen und Migranten der ersten Generation aus Osteuropa und der Türkei sowie Aussiedler und Aussiedlerinnen aus der ehemaligen Sowjetunion über eine vergleichbare bis geringfügig höhere Inanspruchnahme der Dienste von Haus- und Fachärzten berichteten. Auffällig war allerdings eine wesentlich geringere Inanspruchnahme der Dienste von Psychologie und Psychiatrie im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund, aber auch im Vergleich zu Migranten der zweiten Generation. „Der Unterschied bei den psychiatrischen Leistungen zwischen Migranten der ersten und zweiten Generation in unserer Studie lässt sich zum Teil durch sprachliche Barrieren erklären, die für die Menschen der ersten Migrantengeneration oft noch größer sind als für die Folgegeneration, aber auch durch kulturelle Unterschiede“, erklärt der Letztautor der Studie Prof. Heiko Becher.
„Im Zusammenspiel mit früheren Studien deuten unsere Erkenntnisse darauf hin, dass bei Migranten der ersten Generation ein ungedeckter Bedarf hinsichtlich psychosozialer Dienste in Deutschland besteht. Dieser Bedarf sollte durch die Förderung eines leichteren Zugangs und den Abbau von Barrieren angegangen werden“, sagt Christian Wiessner, Erstautor der Studie und Wissenschaftler am UKE. Solche Maßnahmen könnten beispielsweise den Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern oder digitale Hilfsmittel umfassen, um die Abhängigkeit von Sprachkenntnissen zu verringern, aber auch die Ausbildung kultureller Kompetenzen bei Beschäftigten im Gesundheitswesen oder die Förderung der Gesundheitskompetenz von Migranten.