Das Verfahren, mit dem die Teilnehmenden der NAKO Gesundheitsstudie ihre Daten und Bioproben für die Forschung freigeben können, folgt dem Prinzip einer breiten Einwilligung, dem sogenannten „Broad Consent“. Die NAKO-Redaktion hat mit Professor Dr. Michael Krawczak über die Herausforderungen und das Konzept des Broad Consent gesprochen. Prof. Krawczak ist Direktor am Institut für Medizinische Informatik und Statistik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel/UKSH, Campus Kiel und ehemaliger Vorsitzender der TMF- Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
Lange Zeit basierte die Einwilligung der Probandinnen und Probanden in Studien auf dem Prinzip des Informed Consent. Dieser wurde weiterentwickelt zum Broad Consent. Warum war diese Weiterentwicklung nötig, und was ist der Unterschied zwischen den beiden Formen?
Das Prinzip des Informed Consent bedeutet, dass die Teilnehmenden möglichst genau erfahren, für welches Forschungsthema ihre Daten oder Biomaterialien verwendet werden sollen. Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) haben wir demgegenüber bereits vor über zehn Jahren den sogenannten Broad Consent insbesondere für die Forschungsnutzung von Daten und Biomaterialien aus der Versorgung eingeführt. Grund dafür war die Einsicht, dass deren Nutzungsmöglichkeiten künftig viel flexibler und vielfältiger sein müssen, als man zum Zeitpunkt ihrer Entstehung absehen kann.
Ich möchte das gerne genauer erklären. Vor 20 Jahren hat beispielsweise kaum jemand gedacht, dass Daten aus der Gastroenterologie – also Informationen rund um den Magen-Darm-Trakt – irgendwann für die Forschung im Bereich der Zahnmedizin eine Rolle spielen würden. D.h. Daten und Biomaterialien, die heute für einen bestimmten, inhaltlich fokussierten Zweck gesammelt werden, können in einigen Jahren für ganz andere Forschungsprojekte interessant sein – darunter auch solche, an die wir heute vielleicht noch gar nicht denken. Es ist also schwierig, im Voraus genau zu sagen, wofür Daten und Biomaterialien in Zukunft verwendet werden sollen. Das bedeutet aber nicht, dass den betroffenen Personen Informationen vorenthalten werden. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeiten der Forschung, und damit den Nutzen für die Forschung, möglichst umfangreich zu gestalten – bei gleichzeitigem Schutz der Betroffenen und ihrer Daten.
Auch der Broad Consent stellt eine Form der informierten Einwilligung dar. Im Rahmen von Studien und im Versorgungskontext werden die Betroffenen umfassend über ihre Rechte und über die geplante Verwendung ihrer Daten und Bioproben aufgeklärt. Der Unterschied zum Informed Consent besteht jedoch darin, dass der Broad Consent offener gestaltet ist und darauf abzielt, eine Nutzung der Daten und Biomaterialien für eine Vielzahl wichtiger Forschungsprojekte zu ermöglichen.
Zum Schutz der Betroffenen sowie ihrer Daten und Biomaterialien sind vier Aspekte des Broad Consent von entscheidender Bedeutung:
- Die Betroffenen werden sehr klar und eindeutig über den vorgesehenen Nutzungszweck informiert. Dieser besteht in medizinischer Forschung zur besseren Vorbeugung, Erkennung und Therapie von Krankheiten. Die Probandinnen und Probanden wissen also, dass ihre Daten in verschiedenen Forschungsprojekten für diesen Zweck verwendet werden, ohne dass sie über jedes einzelne Projekt aus den verschiedenen Bereichen erneut um ihre Zustimmung gebeten werden.
- Jedes Forschungsprojekt, dass sich auf den Broad Consent als rechtliche Grundlage stützt, wird vorab von einer Ethik-Kommission geprüft. Diese entscheidet, ob die geplante Nutzung der Daten oder Biomaterialien ethisch vertretbar ist.
- Die Nutzung der Daten und Bioproben ist eingeschränkt auf Einrichtungen in EU-Ländern oder in Ländern mit einem vergleichbaren Datenschutzniveau.
- Und schließlich spielt am UKSH und in der NAKO die freiwillige Entscheidung für oder gegen die Rückmeldung sogenannter „Zufallsfunde“ eine große Rolle. Diese Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Wissen steht aus unserer Sicht allein den Betroffenen zu.
Kurz gesagt: Der Broad Consent ist eine Weiterentwicklung des Informed Consent, der flexibler ist und die Nutzung von Daten und Biomaterialien für künftige, noch unbestimmte Forschungsprojekte ermöglicht. Gleichzeitig bleibt der Schutz der Betroffenenrechte gewahrt, da sie hinreichend informiert werden, ihre Entscheidung frei treffen und diese jederzeit auch wieder ändern können.
Welche rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen sind aus Ihrer Sicht für die Implementierung des Broad Consent in epidemiologischen Studien relevant?
Der rechtliche Rahmen ergibt sich für Studien ebenso für die Nutzung von Versorgungsdaten vordringlich aus dem Erwägungsgrund 33 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Dieser stellt fest, dass den Betroffenen der Zweck der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten für die wissenschaftliche Forschung zum Zeitpunkt der Erhebung der Daten nicht unbedingt präzise bekannt sein muss, damit eine solche Nutzung per Einwilligung legitimiert werden kann. Darunter fällt auch die Gesundheitsforschung, wie sie unter anderem in Studien wie der NAKO betrieben wird, und die auf die Verbesserung von Diagnose, Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten abzielt. Der Erwägungsgrund 33 und die zugehörigen Regelungen in der DSGVO sichern somit die Rechtmäßigkeit der Forschungsnutzung von Daten und Biomaterialien, für die in Form eines Broad Consent eingewilligt wurde.
Erwägungsgrund 33: Einwilligung zur wissenschaftlichen Forschung: Oftmals kann der Zweck der Verarbeitung personenbezogener Daten für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung zum Zeitpunkt der Erhebung der personenbezogenen Daten nicht vollständig angegeben werden. Daher sollte es betroffenen Personen erlaubt sein, ihre Einwilligung für bestimmte Bereiche wissenschaftlicher Forschung zu geben, wenn dies unter Einhaltung der anerkannten ethischen Standards der wissenschaftlichen Forschung geschieht. Die betroffenen Personen sollten Gelegenheit erhalten, ihre Einwilligung nur für bestimme Forschungsbereiche oder Teile von Forschungsprojekten in dem vom verfolgten Zweck zugelassenen Maße zu erteilen.
Ich hielte es sogar für ethisch problematisch, wenn Betroffene ihre Einwilligungen so einschränken könnten, dass sie nur bestimmte Krankheiten oder Forschungsfelder umfassen und andere dezidiert ausschließen würden. Wenn z.B. ein Herzinfarkt-Patient sagt, dass mit seinen Daten nur über kardiologische, nicht aber über gastroenterologische Themen geforscht werden darf, so hielte ich dies aus vielen Gründen für fragwürdig. Zum einen würden damit Krankheiten bezüglich ihrer Forschungsdringlichkeit gegeneinander abgewogen und zudem würde Betroffenen die Entscheidung abverlangt, welche Krankheiten und Forschungsfelder wichtiger sind als andere. Zum anderen werden die historisch gewachsenen Grenzen zwischen den medizinischen Fachdisziplinen gerade in der Forschung immer durchlässiger. Daher sollte eine Einwilligung in die Datennutzung für die medizinische Forschung so breit wie möglich und fachübergreifend angelegt sein.
Kurz gesagt: Wenn ein datenbasiertes Forschungsprojekt aus einem akademischen Umfeld kommt, von einer Ethikkommission geprüft wurde und alle rechtlichen Vorgaben einhält, dann halte ich dessen Legitimierung durch einen Broad Consent für hinreichend begründet.
Welche Bedenken gibt es rund um den Broad Consent?
Zum einen fehlt an vielen Stellen das Verständnis für die Notwendigkeit einer breiten Einwilligung, die auch Forschungsprojekte einschließt, die wir heute noch nicht kennen. Die Hintergründe hierzu habe ich bereits erläutert.
Aber auch hinsichtlich des Schutzes der Daten und Biomaterialien gibt es Unsicherheiten. Deswegen nehmen wir das Thema Datenschutz sehr ernst und erklären dies den Betroffenen im Einwilligungsverfahren sehr genau. Wir halten uns selbstverständlich streng an alle einschlägigen Gesetze und Vorgaben, arbeiten sehr eng mit den lokalen Ethikkommissionen zusammen und unternehmen auf technischer Seite alles, um das in uns gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Datenschutz ist eben nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber den Betroffenen.
Die NAKO Gesundheitsstudie startet dieses Jahr mit der umfangreichen Genotypisierung und der Ganzgenomsequenzierung von Biomaterialien. Mit Blick auf diese Analysen bestehen an vielen Stellen Bedenken, dass genetische Daten missbraucht werden könnten oder Unbefugten zugänglich sind. Insbesondere besteht die Befürchtung, dass sensible Informationen über die Gesundheit oder über genetische Veranlagungen der Betroffenen in falsche Hände geraten könnten. Um diesen Sorgen sachgerecht und nachhaltig begegnen zu können, ist es wichtig, nicht pauschal von „genetischen Daten“ zu sprechen. Manche genetische Daten sind weniger aussagekräftig als ein Blutdruckwert, während andere hoch sensibel und daher besonders schützenswert sind. Man muss daher im Interesse aller Beteiligten klar differenzieren: Je sensibler genetische Daten sind, desto mehr Schutzmaßnahmen sind notwendig. Ich möchte an diese Stelle darauf verweisen, dass im Rahmen des Modellvorhabens zur Genomsequenzierung nach §64e SGB V sogenannte Trusted Research Environments (TRE) vorgesehen sind, in denen künftig an den genetischen Daten der Patientinnen und Patienten geforscht werden kann, ohne die Daten dafür physikalisch übermitteln zu müssen. Meines Wissens ist auch für die NAKO Gesundheitsstudie eine solche TRE für die Nutzung der genetischen Daten vorgesehen.
Ein Trusted Research Environment (TRE) ist eine sichere Computerumgebung, in der Forscherinnen und Forscher Zugriff auf sensible Daten wie z. B. die Gesundheitsdaten von Studienteilnehmenden haben, die aber gleichzeitig deren Privatsphäre wahrt und ein hohes Maß an Datensicherheit ermöglicht. Es handelt sich bei TREs um kontrollierte und sichere Räume, in denen dafür berechtigte Personen Daten bearbeiten und analysieren können, ohne dass die Daten selbst die Umgebung verlassen.
Neben allen rechtlichen, ethischen und methodischen Vorbehalten gegen den Umgang mit genetischen Daten lohnt aber auch ein Blick auf den potenziellen Nutzen der Genomforschung. Genetische Analysen helfen beispielsweise Patientinnen und Patienten mit onkologischen Erkrankungen, bei denen Standardtherapien ausgereizt sind. Hier können genetische Tests neue Wege zu einer stärker personalisierten Therapie eröffnen. Besonders hilfreich ist dabei die Ganzgenomsequenzierung, die auch bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einer sogenannten „Seltenen Erkrankung“ von großer Bedeutung ist. Durch die Untersuchung des gesamten Erbgutes werden so oftmals Mutationen entdeckt, die die Ursache für die individuelle Erkrankung sein könnten. Wird dann weltweit in Datenbanken nach diesen Mutationen gesucht, stößt man vielleicht auf Fälle, bei denen die gleichen oder ähnliche Veränderungen bei Betroffenen mit ähnlichen Symptomen gefunden wurden. Dies hilft den betreuenden Ärztinnen und Ärzten, die Krankheitsursachen besser zu verstehen und kann im Idealfall sogar Auskunft über bereits erfolgreiche Therapien geben. Genetische Analysen helfen also schon heute, Krankheiten besser zu verstehen und passende Behandlungsmöglichkeiten zu finden.
Modellvorhaben Genomsequenzierung nach § 64e SGB V: Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) vom 11.07.2021 (BGBl. I, 2754) hat in § 64e SGB V ein Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung sowohl bei seltenen als auch bei onkologischen Erkrankungen bestimmt. Grundlage des Modellvorhabens ist die umfangreiche Genomsequenzierung im Rahmen eines strukturierten klinischen Behandlungsablaufs und die darauf aufbauende Zusammenführung von klinischen und genomischen Daten in einer Infrastruktur. Ziel ist es, durch die einrichtungsübergreifende Analyse der im Modellvorhaben gewonnenen Daten die medizinische Versorgung der teilnehmenden Patientinnen und Patienten zu verbessern.
Gibt es Personenkreise, für die eine Verwendung des Broad Consent besonders problematisch sein könnte?
Neben Nicht-Muttersprachlerinnen und -Muttersprachlern sind dies natürlich Kinder. Für Kinder gibt es daher ein spezielles Verfahren in Form eines sogenannten „pädiatrischen Broad-Consent“, das sich an einigen Stellen vom Erwachsenen-Broad-Consent unterscheidet. Die Fähigkeit, selbst über die Bereitstellung von Daten und Biomaterialien für Forschungszwecke zu bestimmen, ist nach allgemeinem Verständnis ab einem Alter von 18 Jahren gewährleistet. In der Regel wird aber bereits ab 16 Jahren für die Gültigkeit des Broad Consent neben der Einwilligung der Eltern auch die Zustimmung des Kindes vorausgesetzt. Wir handhaben es im UKSH so, dass wir die Betroffenen nach Vollendung des 18 Lebensjahrs direkt anschreiben und um ihre Einwilligung im Rahmen eines Erwachsenen-Broad-Consent bitten. Bis zum Erhalt einer Rückmeldung, ggf. auch eines Widerspruchs, bleibt die Zustimmung der Eltern weiterhin gültig.
Die Sprachbarriere ist natürlich auch für uns ein großes Thema. Zum Teil haben Nicht-Muttersprachler eine Begleitung dabei, die sie beim Verstehen der Aufklärung und Einwilligung unterstützt. In Fällen, in denen dies nicht der Fall und die Sprachbarriere zu hoch ist, kann kein Broad Consent eingeholt werden.
Herr Professor Krawczak, wir danken für das Gespräch.
Weitere Informationen
Übersicht zu laufenden und abgeschlossenen Forschungsprojekten, die mit Daten und Bioproben der NAKO Gesundheitsstudie arbeiten:
Über Prof. Krawczak auf den Seiten Christian–Albrechts–Universität zu Kiel
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