Zum Tag der seltenen Erkrankungen: Der lange Weg bis zur Diagnose

Wie viele Krankheiten gelten als selten? Leiden mittlerweile mehr Menschen an einer seltenen Krankheit als früher? Und wie wirken sich seltene Erkrankungen auf die Psyche aus? Diese und mehr Fragen haben uns Dr. Pamela Okun, PD Dr. Daniela Choukair und Prof. Dr. Georg Hoffmann vom Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) beantwortet.

Wie kamen Sie dazu, sich beruflich mit seltenen Erkrankungen zu beschäftigen?

SE manifestieren sich zumeist im Kindes- und Jugendalter und fallen damit in den Verantwortungsbereich der Kinder- und Jugendmedizin. Viele seltene/genetische Erkrankungen zeigen bereits bei Geburt schwere Symptomkonstellationen und gehören leider zu den häufigsten Ursachen von Säuglingssterblichkeit in Deutschland. Circa 15  Prozent aller Säuglinge in pädiatrischen Intensivstationen leiden an seltenen Erkrankungen (SE), die oft sehr rasch und tödlich verlaufen.

Gibt es mittlerweile mehr Menschen, die an seltenen Krankheiten leiden als in der Vergangenheit?

Ja, die aktuell ungebrochene Dynamik der zunehmenden Anzahl bekannter und diagnostizierbarer
SE hat die 9.000 überschritten und wächst weiter. Jedes Jahr kommen ca. 150 bis 250 weitere Erkrankungen hinzu. Diese Zunahme spiegelt v. a. die erfolgreiche Aufklärung der genetischen Ursachen der Mehrzahl der SE wider.

Was sind die häufigsten seltenen Erkrankungen, die an Ihrem Zentrum diagnostiziert werden?

„Angeborene Hypothyreose“ mit einer Häufigkeit von 1/3.500 Neugeborene sind sehr seltene Syndrome, von denen weltweit nur einige Patienten bekannt sind. Ein Beispiel dafür ist das „Wiedemann-Steiner-Syndrom“, welches durch multiple kongenitale Anomalien/Dysmorphien, wie Kleinwuchs, starke Behaarung, Gesichtsdysmorphie, Verhaltensprobleme, Entwicklungsverzögerung und in den meisten Fällen eine leichte bis mittlere intellektuelle Beeinträchtigung gekennzeichnet ist.

Der Tag der seltenen Krankheiten wurde in Europa und Kanada erstmals am 29. Februar 2008 begangen, um die Öffentlichkeit auf die Belange der von seltenen Krankheiten Betroffenen aufmerksam zu machen.

Wie wirkt es sich auf die Psyche aus, wenn man an einer seltenen Erkrankung leidet?

An einer seltenen Erkrankung zu leiden, ist in vielen Fällen eine große psychische Belastung. Häufig
ist der Weg bis zur Diagnosestellung sehr lang und durch jahrelange Odysseen von Arzt zu Arzt
geprägt. Diese Zeit der Ungewissheit wird von vielen Patienten als extrem zermürbend empfunden. Wird dann eine Diagnose gestellt, wird dies zunächst als Erleichterung empfunden, da das verzweifelte Suchen nach der Ursache der Symptome ein Ende hat. Es gibt dann einen Ansprechpartner, bei dem alle Informationen zu dieser Erkrankung zusammenlaufen und der bei Fragen Auskunft geben kann. Es gibt andere Betroffene mit sehr ähnlichen Problemen, mit denen man sich vernetzen, austauschen und sich gegenseitig unterstützen kann. In vielen Fällen ist allerdings keine Heilung in Sicht, was für die Betroffenen und ihren Familien ebenfalls eine große psychische Belastung darstellt. Daher sollte stets die Betreuung dieser Patienten und deren Familien innerhalb eines multidisziplinären Teams erfolgen, welche Sozialarbeitern und Psychologen einbindet.

Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Also gibt es z. B. eine seltene Krankheit, die fast ausschließlich bei Männern bzw. Frauen auftritt?

Die Geschlechterverteilung hängt vom Vererbungsmodus der Erkrankung ab. In den meisten Fällen sind beide Geschlechter gleich betroffen, seltener nur Männer bzw. Frauen. Ein Beispiel für eine Erkrankung, bei der Männer deutlich schwerer betroffen sind, wäre „die X-chromosomal rezessive vererbte Muskeldystrophie Duchenne“. Aber auch weibliche Träger können betroffen sein und kardiale Symptome entwickeln. Eine weitere Erkrankung, die in der Regel bei Männern auftritt ist die „X-chromosomal rezessiv vererbte Dent´s disease“, eine Nierenerkrankung, die in der Regel im 3. bis 5. Lebensjahrzehnt zu einer terminalen Niereninsuffizienz führt.

Warum ist es wichtig, Erkrankungen zu erforschen, die selten bis sehr selten auftreten?

Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt, dass Forschung zu SE ein enormes Potenzial hat, durch Aufklärung der Pathophysiologie grundlegende Mechanismen zu erkennen und so Therapien zu entwickeln, die Auswirkungen der Erkrankungen zu mildern bzw. sogar zu stoppen.

Welche Bedeutung haben seltene Erkrankungen für die NAKO-Gesundheitsstudie?

Bei vielen wichtigen chronischen Krankheiten werden jetzt zunehmend seltene Erkrankungen als Ursache für eine spezifische Krankheitsgruppe gefunden, z.B. bei neurodegenerativen Erkrankungen, geistiger Behinderung, aber auch unterschiedlichen Krebsarten. Die Kenntnis dieser tieferliegenden spezifischen Ursachen ist für den Krankheitsverlauf und Therapiesteuerung in der Regel ein wichtiger Fortschritt.

Weitere Informationen

Was ist eine seltene Erkrankung?

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Da es mehr als 6.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen hoch. Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe von sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Die meisten dieser Erkrankungen verlaufen chronisch und gehen mit gesundheitlichen Einschränkungen beziehungsweise eingeschränkter Lebenserwartung einher. Häufig bilden Betroffene bereits im Kindesalter Symptome aus. Etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt oder mitbedingt, nur wenige sind bisher heilbar

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