Reihe „Themen im Fokus“: der Rücken

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Rückenverspannungen und Rückenschmerzen, die zum Hinterkopf, zur Schulter und zum Arm ausstrahlen, Muskelblockaden, Hexenschuss: eine falsche Bewegung und man ist K.O. … wer kennt das nicht.

In unserer Reihe „Themen im Fokus“, die u. a. den Auswirkungen von Umwelt- und Lebensstilfaktoren bei der Entstehung von chronischen Erkrankungen gewidmet ist, steht heute der Rücken im Fokus. Prof. Dr. Michael Leitzmann, Direktor des Instituts für Epidemiologie und Präventivmedizin an der Universität Regensburg und NAKO Principal Investigator am Standort Regensburg, beleuchtet dieses besondere Krankheitsbild.

 

NAKO Redaktion: Rückenschmerzen sind ein allgemeines Phänomen. Gibt es Statistiken darüber, wie hoch die Anzahl der Menschen in Deutschland bzw. weltweit ist, die an Rückenschmerzen leiden?

Prof. Leitzmann: Rückenschmerzen zählen zu den größten Gesundheitsproblemen und verursachen erhebliche medizinische und gesamtwirtschaftliche Kosten. Befragungen zufolge hat ca. 60% der Bevölkerung in Deutschland im vergangenen Jahr an Rückenschmerzen gelitten, wobei Schmerzen des unteren Rückens etwa doppelt so häufig wie Schmerzen des oberen Rückens angegeben wurden. Dabei sind Frauen von Rückenschmerzen häufiger betroffen als Männer. Auch berichten ältere Personen über mehr Rückenschmerzen als jüngere. Global betrachtet stellen Rückenschmerzen ebenfalls ein bedeutendes Problem dar. So betreffen Schätzungen zufolge Schmerzen im unteren Rückenbereich weltweit mehr als 500 Millionen Menschen – d. h. mehr als jeder Zehnte.

 

NAKO Redaktion: Warum haben die Menschen zunehmend Rückenprobleme?

Prof. Leitzmann: Die wichtigsten Ursachen für die beobachtete Zunahme an Rückenproblemen sind Bewegungsmangel, Übergewicht und einseitige Belastungen am Arbeitsplatz bzw. der Schule.

 

NAKO Redaktion: Warum bewegen sich die Menschen heute weniger als früher?

Prof. Leitzmann: Die Hauptursache für den Bewegungsmangel ist der gesellschaftliche Wohlstand. So sind Menschen in einkommensstarken Ländern deutlich weniger körperlich aktiv als solche in einkommensschwachen Ländern. Dies hängt mit der Art der Arbeit in den jeweiligen Weltregionen zusammen. So muss der Mensch in unserer heutigen Industriegesellschaft nicht mehr der bäuerlichen Arbeit nachgehen, sondern sitzt stattdessen meist in einem Büro. Auch Fortschritte im Transportbereich führen zu Bewegungsmangel. So wird zum Einkaufen statt zu Fuß gegangen lieber mit dem Auto gefahren oder das Internet benutzt und das mühsame Treppensteigen wird durch den Fahrstuhl und die Rolltreppe ersetzt.

 

NAKO Redaktion: Rückenschmerzen zählen zu den Zivilisationskrankheiten. Aber die NAKO beschäftigt sich mit Volkskrankheiten, wo ist da der Zusammenhang?

Prof. Leitzmann: Rückenschmerzen gehören zu den Zivilisationskrankheiten, weil deren Ursache und Verbreitung durch unsere zivilisierte Lebenswelt ausgelöst bzw. begünstigt werden. Die NAKO befasst sich u.a. mit Rückenschmerzen, weil diese äußerst weit verbreitet sind und daher zu den Volkskrankheiten zählen.

 

NAKO Redaktion: Sie haben zusammen mit Dr. Carmen Jochen das Buch „Sitzstreik – Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“ verfasst. Warum interessieren Sie sich für Rückenschmerzen?

Prof. Leitzmann: Rückenschmerzen sind eine wichtige Nebenwirkung von übermäßig langem, ununterbrochenem Sitzen. Rückenschmerzen sind für Betroffene teils sehr belastend und können zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität führen. Als Präventivmediziner setzen wir uns für frühzeitige und effektive bewegungs- und arbeitsplatzbezogene Vorsorgemaßnahmen bezüglich Rückenschmerzen ein.

 

NAKO Redaktion: Ihr Buch erschien 2018, wie ist die Lage heutzutage? Wegen Corona waren die zwei letzten Jahre für die meisten Menschen weltweit extrem schwierig: Quarantäne, Social Distancing, Lock down, Homeoffice, Online-Schule, um nur einige der Einschränkungen aufzuzählen. Eigentlich wurden die Menschen in dieser Zeit fast zum Bewegungsmangel gezwungen.

Prof. Leitzmann: COVID-19-bedingte Ausgangsbeschränkungen und -sperren haben den ohnehin bereits vorhandenen Bewegungsmangel weltweit weiter verschärft, wobei die Zunahme des sitzenden Verhaltens bei Kindern höher ausfiel als bei Erwachsenen. Der Anstieg des sitzenden Verhaltens fand in allen Lebensbereichen der Gesellschaft statt, d.h. sowohl im Arbeitsplatzkontext als auch im Freizeitbereich.

 

NAKO Redaktion: Bewegung bzw. Sport gelten als eine Art Medizin. Aber woher weiß man, wie viel Sport oder Bewegung einem/einer gut tut und welche Bewegungsart für jeden/jede einzelne*n die richtige ist?

Prof. Leitzmann: Auswertungen von Langzeitstudien haben gezeigt, dass Erwachsene mindestens 150-300 Minuten pro Woche moderate körperliche Aktivität oder mindestens 75-150 Minuten pro Woche intensive körperliche Aktivität oder eine gleichwertige Kombination aus moderater und intensiver Aktivität ausüben sollten. Zusätzlich sollten sie an mindestens zwei Tagen pro Woche muskelstärkende Aktivitäten mit moderater oder hoher Intensität durchführen. Außerdem sollten sie die Zeit begrenzen, die sie in sitzender Tätigkeit verbringen.

 

NAKO Redaktion: Haben Sie Tipps, wie man den inneren „Schweinehund“ überwindet? Welche Strategien helfen langfristig, damit die Bewegung automatisch zum Bestandteil unseres Lebens wird.

Prof. Leitzmann: Hierfür gibt es eine ganze Reihe wirksamer Ansätze. Wenn es die Entfernung zulässt, kann man beispielsweise zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen entweder zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren. Effektiv ist es auch, die Treppe statt den Fahrstuhl zu nehmen, weiter entfernt vom Ziel zu parken als notwendig, bereits an der vorletzten Haltestelle aus dem Bus bzw. U-Bahn auszusteigen, mit dem Hund spazieren zu gehen, oder während des Fernsehens ein kleines Workout einzulegen. Es hilft, wenn man Aktivitäten auswählt, die einem Spaß machen und unabhängig vom Wetter ausgeübt werden können, wie z.B. Spaziergänge im Einkaufszentrum, Tanzen oder Gymnastik. Um die Zeit in sitzender Tätigkeit zu reduzieren, kann es nützlich sein, Besprechungen nach Möglichkeit im Stehen oder Gehen abzuhalten und während eines Telefongesprächs aufzustehen oder ein wenig herumzulaufen.

 

NAKO Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Mehr über die medizinischen und kulturgeschichtlichen Hintergründe in „Sitzstreik – Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“ Dr. med. Carmen Jochen und Prof. Dr. med. Michael Leitzmann, Herder, 2018

Umwelt und Gesundheit: 2. Folge – die Luftverschmutzung und der Lärm

In der ersten Folge der Serie „Umwelt und Gesundheit“ haben wir uns der Lichtverschmutzung gewidmet. Heute wollen wir weitere gesundheitsschädliche Aspekte des Klimawandels ins Visier nehmen: Luftverschmutzung und Lärm. Auch dieses Mal unterstützt durch die Expertise von Prof. Dr. Barbara Hoffmann und Dr. Alexandra Schneider.

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NAKO Redaktion: Dass der Klimawandel schon jetzt eine Bedrohung sowie eine latente Gesundheitsgefährdung darstellt, ist in aller Munde. Womit hängt es zusammen?

Barbara Hoffmann: Der neueste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) vom 28.02.2022 bekräftigt die zunehmende Bedrohung durch den Klimawandel. Prognosen deuten darauf hin, dass der Klimawandel zu anhaltenden Hitzewellen führen wird, die durch eine höhere Frequenz und Intensität, eine längere Dauer und einen früheren Eintrittszeitpunkt innerhalb des Jahres gekennzeichnet sind. Deutschlandweite Temperaturmodelle zeigen über die Jahre hinweg eine Zunahme der Anzahl von Hitzetagen (Tage mit über 30°C) pro Jahr, die sich aber regional durchaus recht unterschiedlich verteilen können.

 

NAKO Redaktion: In unserem Gespräch über Lichtverschmutzung haben Sie darauf hingewiesen, dass die NAKO die ideale Datenbasis auch für Fragestellungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels ist. Womit beschäftigt sich die Umweltepidemiologie der NAKO darüber hinaus?

Alexandra Schneider: Ein weiteres Beispiel für umweltepidemiologische Fragestellungen in der NAKO ist die nächtliche Lärmbelästigung und die damit einhergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen [siehe die Arbeit von Wolf et al. 2020, Anm. d. Red.]. Die subjektive Lärmbelästigung steht im Zusammenhang mit der objektiven Lärmbelastung sowie individuellen und regionalen Faktoren. Eine erste Querschnittsanalyse basierend auf Daten von 86.080 NAKO-Teilnehmenden aus 18 Studienzentren, die von 2014 bis 2017 untersucht wurden, zeigte, dass sich zwei Drittel der Teilnehmenden nicht durch Verkehrslärm belästigt fühlten. Jeder Zehnte berichtete dagegen von starker oder sehr starker Belästigung, mit den höchsten Anteilen in Berlin-Mitte und Leipzig.

 

NAKO Redaktion: Neben subjektiven und objektiven Komponenten der Lärmbelästigung spielen auch weitere Faktoren wie Geografie, Alter und Geschlecht eine Rolle?

Alexandra Schneider: Subjektive Wahrnehmung, objektiv messbare Faktoren und der Ort spielen eine wichtige Rolle. [In der Studie von Wolf] wurden für Faktoren der individuellen Wohnsituation die stärksten Assoziationen mit Lärmbelästigung beobachtet, wie z.B. die Position des Schlafraums zur Hauptstraße im Vergleich zur Lage in Richtung Garten/Innenhof. Teilnehmende im Alter von 40–60 Jahren oder der mittleren und niedrigen Einkommensklasse fühlten sich eher durch Verkehrslärm belästigt als jüngere bzw. ältere Teilnehmende oder solche mit höherem Einkommen. Auch im Bezug auf das Geschlecht gibt es Unterschiede: Frauen fühlen sich häufiger stark oder sogar sehr stark durch Lärm gestört als Männer.

NAKO Redaktion: Wie wissen wir, ob die Luft, die wir täglich atmen, auch wirklich gut ist? Nach welchen Kriterien wird die Luftqualität eingestuft und ab wann gilt diese als gesundheitsschädlich?

Barbara Hoffmann: Nach fünf Jahren Bearbeitung sind am 22. September 2021 die neuen globalen Luftgüteleitlinien (Air Quality Guidelines) erschienen. Darin empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Richtwerte für die wichtigsten Luftschadstoffe: Feinstaub, Stickstoffdioxid, Ozon, Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid. Diese Richtwerte der WHO sind nicht bindend, allerdings hat die EU sich zum Ziel gesetzt, sich bei der Gesetzgebung an den Empfehlungen der WHO zu orientieren.

 

NAKO Redaktion: Also gelten momentan in der EU andere Grenzwerte.

Alexandra Schneider: Die gesetzlichen EU-Grenzwerte weichen von den aktuellen WHO-Empfehlungen ab. Ich möchte die Abweichung anhand eines Beispiels zeigen: Der gesetzliche Grenzwert für den Jahresmittelwert von Feinstaub PM2.5 liegt in Europa bei 25 µg/m3, während die WHO – auf der Basis von umfangreichen Studien – einen Wert von unter 5 µg/m3 empfiehlt. [Ein µg ist ein Millionstel Gramm und ist, salopp ausgedrückt, leichter als ein Sandkorn, Anm. d. Red.]

 

NAKO Redaktion: Die meisten Menschen wissen, dass Feinstaub, Stickstoffdioxid, Ozon, Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid für die Gesundheit gefährlich sind. Können Sie die Gefahren konkret in Zahlen fassen?
Barbara Hoffmann: In der EU führt Luftverschmutzung im Schnitt zu einer Reduktion der Lebenserwartung von ca. 9 Monaten.

 

NAKO Redaktion: Ein ziemlich düsteres Szenario, wenn umweltpolitisch nichts passiert. Womit können wir in Zukunft rechnen und welche Hindernisse gilt es zu meistern?

Alexandra Schneider: In Brüssel werden neue Luftschadstoff-Grenzwerte für die EU erarbeitet, da – auf der Basis wissenschaftlicher Studien – das bisherige Gesetz die Bevölkerung

unzureichend vor den schädlichen Wirkungen von Luftverschmutzung schützt. Das EU-Parlament hat eine Übernahme der WHO-Empfehlungen gefordert.

 

NAKO Redaktion: Sie meinen also, dass auf der Basis der neuen Luftgüteleitlinien der WHO eine schrittweise und kontinuierliche Reduzierung der Exposition der Bevölkerung erforderlich ist, um eine optimale Prävention zu gewährleisten.

Alexandra Schneider: Optimal wäre auf der einen Seite die kontinuierliche Reduktion der bevölkerungsbezogenen Belastung und auf der anderen das Angebot von Anreizen für eine Verbesserung der Luftqualität selbst in den Mitgliedsstaaten bzw. Regionen, die bereits relativ niedrige Werte aufweisen. Dadurch könnte man vermeiden, dass wichtige Emittenten nicht einfach innerhalb eines Landes bzw. einer Region verlagert werden, ohne die Menge an Emissionen zu verringern.

 

NAKO Redaktion: Das Thema Umwelt und Gesundheit ist stark politisch besetzt. Kann eine wissenschaftliche Gesundheitsstudie wie die NAKO zur Lösung gesundheitspolitischer Fragestellungen beitragen?

Barbara Hoffmann: Die Forschung verbessert den Wissensstand und gibt Entscheidungsträgern valide Kriterien und Empfehlungen zur Verbesserung.

Die NAKO Studie wird, als bevölkerungsbasierte Langzeitstudie, eine Reihe wertvoller Erkenntnisse zu Umwelt- und zu gesundheitsrelevanten Fragen (wie beispielsweise regionale Unterschiede oder zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen) generieren sowie konkrete Empfehlungen zum Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen aussprechen.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Umwelt und Gesundheit: Folge 2 / 27.04.2022 – die Luftverschmutzung und der Lärm

In der ersten Folge der Serie „Umwelt und Gesundheit“ haben wir uns der Lichtverschmutzung gewidmet. Heute wollen wir weitere gesundheitsschädliche Aspekte des Klimawandels ins Visier nehmen: Luftverschmutzung und Lärm. Auch dieses Mal unterstützt durch die Expertise von Prof. Dr. Barbara Hoffmann und Dr. Alexandra Schneider.

NAKO Redaktion: Dass der Klimawandel schon jetzt eine Bedrohung sowie eine latente Gesundheitsgefährdung darstellt, ist in aller Munde. Womit hängt es zusammen?

Barbara Hoffmann: Der neueste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) vom 28.02.2022 bekräftigt die zunehmende Bedrohung durch den Klimawandel. Prognosen deuten darauf hin, dass der Klimawandel zu anhaltenden Hitzewellen führen wird, die durch eine höhere Frequenz und Intensität, eine längere Dauer und einen früheren Eintrittszeitpunkt innerhalb des Jahres gekennzeichnet sind. Deutschlandweite Temperaturmodelle zeigen über die Jahre hinweg eine Zunahme der Anzahl von Hitzetagen (Tage mit über 30°C) pro Jahr, die sich aber regional durchaus recht unterschiedlich verteilen können.

NAKO Redaktion: In unserem Gespräch über Lichtverschmutzung haben Sie darauf hingewiesen, dass die NAKO die ideale Datenbasis auch für Fragestellungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels ist. Womit beschäftigt sich die Umweltepidemiologie der NAKO darüber hinaus?

Alexandra Schneider: Ein weiteres Beispiel für umweltepidemiologische Fragestellungen in der NAKO ist die nächtliche Lärmbelästigung und die damit einhergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen [siehe die Arbeit von Wolf et al. 2020, Anm. d. Red.]. Die subjektive Lärmbelästigung steht im Zusammenhang mit der objektiven Lärmbelastung sowie individuellen und regionalen Faktoren. Eine erste Querschnittsanalyse basierend auf Daten von 86.080 NAKO-Teilnehmenden aus 18 Studienzentren, die von 2014 bis 2017 untersucht wurden, zeigte, dass sich zwei Drittel der Teilnehmenden nicht durch Verkehrslärm belästigt fühlten. Jeder Zehnte berichtete dagegen von starker oder sehr starker Belästigung, mit den höchsten Anteilen in Berlin-Mitte und Leipzig.

NAKO Redaktion: Neben subjektiven und objektiven Komponenten der Lärmbelästigung spielen auch weitere Faktoren wie Geografie, Alter und Geschlecht eine Rolle?

Alexandra Schneider: Subjektive Wahrnehmung, objektiv messbare Faktoren und der Ort spielen eine wichtige Rolle. [In der Studie von Wolf] wurden für Faktoren der individuellen Wohnsituation die stärksten Assoziationen mit Lärmbelästigung beobachtet, wie z.B. die Position des Schlafraums zur Hauptstraße im Vergleich zur Lage in Richtung Garten/Innenhof. Teilnehmende im Alter von 40–60 Jahren oder der mittleren und niedrigen Einkommensklasse fühlten sich eher durch Verkehrslärm belästigt als jüngere bzw. ältere Teilnehmende oder solche mit höherem Einkommen. Auch im Bezug auf das Geschlecht gibt es Unterschiede: Frauen fühlen sich häufiger stark oder sogar sehr stark durch Lärm gestört als Männer.

NAKO Redaktion: Wie wissen wir, ob die Luft, die wir täglich atmen, auch wirklich gut ist? Nach welchen Kriterien wird die Luftqualität eingestuft und ab wann gilt diese als gesundheitsschädlich?

Barbara Hoffmann: Nach fünf Jahren Bearbeitung sind am 22. September 2021 die neuen globalen Luftgüteleitlinien (Air Quality Guidelines) erschienen. Darin empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Richtwerte für die wichtigsten Luftschadstoffe: Feinstaub, Stickstoffdioxid, Ozon, Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid. Diese Richtwerte der WHO sind nicht bindend, allerdings hat die EU sich zum Ziel gesetzt, sich bei der Gesetzgebung an den Empfehlungen der WHO zu orientieren.

NAKO Redaktion: Also gelten momentan in der EU andere Grenzwerte.

Alexandra Schneider: Die gesetzlichen EU-Grenzwerte weichen von den aktuellen WHO-Empfehlungen ab. Ich möchte die Abweichung anhand eines Beispiels zeigen: Der gesetzliche Grenzwert für den Jahresmittelwert von Feinstaub PM2.5 liegt in Europa bei 25 µg/m3, während die WHO – auf der Basis von umfangreichen Studien – einen Wert von unter 5 µg/m3 empfiehlt. [Ein µg ist ein Millionstel Gramm und ist, salopp ausgedrückt, leichter als ein Sandkorn, Anm. d. Red.]

NAKO Redaktion: Die meisten Menschen wissen, dass Feinstaub, Stickstoffdioxid, Ozon, Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid für die Gesundheit gefährlich sind. Können Sie die Gefahren konkret in Zahlen fassen?
Barbara Hoffmann: In der EU führt Luftverschmutzung im Schnitt zu einer Reduktion der Lebenserwartung von ca. 9 Monaten.

NAKO Redaktion: Ein ziemlich düsteres Szenario, wenn umweltpolitisch nichts passiert. Womit können wir in Zukunft rechnen und welche Hindernisse gilt es zu meistern?

Alexandra Schneider: In Brüssel werden neue Luftschadstoff-Grenzwerte für die EU erarbeitet, da – auf der Basis wissenschaftlicher Studien – das bisherige Gesetz die Bevölkerung

unzureichend vor den schädlichen Wirkungen von Luftverschmutzung schützt. Das EU-Parlament hat eine Übernahme der WHO-Empfehlungen gefordert.

NAKO Redaktion: Sie meinen also, dass auf der Basis der neuen Luftgüteleitlinien der WHO eine schrittweise und kontinuierliche Reduzierung der Exposition der Bevölkerung erforderlich ist, um eine optimale Prävention zu gewährleisten.

Alexandra Schneider: Optimal wäre auf der einen Seite die kontinuierliche Reduktion der bevölkerungsbezogenen Belastung und auf der anderen das Angebot von Anreizen für eine Verbesserung der Luftqualität selbst in den Mitgliedsstaaten bzw. Regionen, die bereits relativ niedrige Werte aufweisen. Dadurch könnte man vermeiden, dass wichtige Emittenten nicht einfach innerhalb eines Landes bzw. einer Region verlagert werden, ohne die Menge an Emissionen zu verringern.

NAKO Redaktion: Das Thema Umwelt und Gesundheit ist stark politisch besetzt. Kann eine wissenschaftliche Gesundheitsstudie wie die NAKO zur Lösung gesundheitspolitischer Fragestellungen beitragen?

Barbara Hoffmann: Die Forschung verbessert den Wissensstand und gibt Entscheidungsträgern valide Kriterien und Empfehlungen zur Verbesserung.

Die NAKO Studie wird, als bevölkerungsbasierte Langzeitstudie, eine Reihe wertvoller Erkenntnisse zu Umwelt- und zu gesundheitsrelevanten Fragen (wie beispielsweise regionale Unterschiede oder zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen) generieren sowie konkrete Empfehlungen zum Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen aussprechen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Barbara Hoffmann (Quelle: privat)

Dr. Alexandra Schneider (Quelle: HMGU)

Umwelt und Gesundheit: Folge 1 / 26.03.2022 – die Lichtverschmutzung

Umwelt und Gesundheit: die Lichtverschmutzung

Licht aus für einen lebendigen Planeten – Earth Hour 2022 

Der Mensch und die Umwelt stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Seit einigen Jahrzehnten wird in der Öffentlichkeit über gesundheitsfördernde vs. gesundheits-schädigende Umweltfaktoren diskutiert. Lichtverschmutzung ist ein Problem mit ungeahnten Folgen für Mensch, Flora und Fauna. Die Aktion „Earth Hour 2022“ will darauf aufmerksam machen. Hierfür schalten heute um dieselbe Uhrzeit (20:30 Uhr Ortszeit) Millionen Menschen, Städte und Institutionen auf der ganzen Welt für eine Stunde das Licht aus.

Zum Thema Lichtverschmutzung haben wir zwei NAKO Wissenschaftlerinnen, Prof. Dr. Barbara Hoffmann vom Universitätsklinikum Düsseldorf und Dr. Alexandra Schneider vom Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, Helmholtz München, interviewt.

NAKO Redaktion: Was ist mit Lichtverschmutzung genau gemeint?

Barbara Hoffmann: Der Begriff Lichtverschmutzung oder Lichtsmog bezeichnet die dauernde Abwesenheit völliger Dunkelheit und bewertet diesen Sachverhalt zudem negativ als eine Art der Umweltverschmutzung.

Der Nachthimmel wird durch Lichtemission aufgehellt, besonders wenn das Licht nach oben abgestrahlt wird beispielsweise durch die nächtliche Beleuchtung in Ballungsgebieten. Das Licht wird in den Luftschichten der Erdatmosphäre gestreut, womit die natürlichen Dunkelheit überlagert wird.

NAKO Redaktion: Warum wird dieses Phänomen auch als Lichtkuppel bezeichnet?

Alexandra Schneider: Der Ausdruck „Lichtkuppel“ oder auch „Lichtglocke“ versinnbildlicht ziemlich genau dieses Phänomen, das künstliche Lichtquellen in der Nacht erzeugen.

NAKO Redaktion: Inwiefern kann Lichtverschmutzung für den Menschen zum Problem werden?

Barbara Hoffmann: Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben derzeit 55% der Weltbevölkerung in städtischen Gebieten, und es wird erwartet, dass diese Zahl bis 2050 auf 68% steigen wird. Im Gegensatz zu natürlichen Ökosystemen, in denen die täglichen Aktivitäten durch natürliche Hell-Dunkel-Zyklen reguliert werden, sind Städte stark beleuchtet um die Durchführung einer Vielzahl von Aktivitäten nach Einbruch der Dunkelheit zu ermöglichen.
Da künstliches Licht in der Nacht breit verfügbar und erschwinglich ist, sind Menschen und andere lebende Organismen zunehmend negativen und allgegenwärtigen Auswirkungen des übermäßigen bzw. teilweise unerwünschten künstlichen Lichts ausgesetzt.

NAKO Redaktion: Lichtverschmutzung ist also gesundheitsschädlich? Kann man Erkrankungen auf die Lichtverschmutzung zurückführen?

Alexandra Schneider: Die Forschung zu den Gesundheitseffekten ist noch relativ jung. Bisher konnte ein Zusammenhang zwischen Lichtverschmutzung und Essstörungen, Gewichtszunahme, Depression, Schlafstörungen und Tumorentwicklung festgestellt werden.

NAKO Redaktion: Umwelteinflüsse und geografischen Faktoren stehen im Fokus einer interdisziplinären NAKO Expertengruppe. Welche Ziele hat man sich gesetzt?

Alexandra Schneider: Die NAKO Gesundheitsstudie untersucht die Gesundheit von mehr als 200.000 Erwachsenen und bietet daher eine einzigartige Gelegenheit, innovative Modelle der zeitlichen und räumlichen Variabilität von Wetter, von Luftverschmutzung, Lärm, Grünflächenverteilung und anderen Kontextfaktoren (wie auch die Lichtverschmutzung) zu untersuchen und frühe pathophysiologische Reaktionen zu identifizieren.

Barbara Hoffmann: Wir untersuchen z. B. den Einfluss der verschiedensten Umweltfaktoren auf die kardiovaskuläre, metabolische und kognitive Funktion sowie die psychische Gesundheit als auch die Belastung durch Infektionskrankheiten.

Es ist u. a. geplant, Lufttemperatur (z.B. Tagesmaximum, Nachtminimum, Wärmeindizes), Feuchte- und UV-Modelle mit Gesundheitsdaten und individuellen und regionalen Merkmalen anhand des Untersuchungsdatums und der Teilnehmeradressen zu verknüpfen. Dies wird zu einem neuartigen Verständnis der zugrundeliegenden physiologischen Reaktionen maßgeblich beitragen.

Alexandra Schneider: Darüber hinaus wird es innerhalb der NAKO möglich sein, Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Umweltfaktoren als auch zwischen Umwelteinflüssen und individuellen bzw. regionalen Faktoren (z.B. Alterung, Multi-Morbidität, städtische vs. ländliche Gebiete) zu quantifizieren. Die daraus resultierende Ableitung von unterschiedlichen Expositions-Wirkungs-Funktionen auf verschiedene Bevölkerungsuntergruppen wird dazu beitragen, besonders gefährdete Subpopulationen in Deutschland zu identifizieren. Dies wird zur Entwicklung von speziellen Interventionen und Anpassungsstrategien beitragen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Umwelt und Gesundheit sind also stärker miteinander verquickt als man denkt. In Bezug auf das Thema Umweltforschung werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Beitrag zu „Luftverschmutzung und Lärm“ wiedermelden.

Prof. Dr. Barbara Hoffmann (Quelle: privat)

Dr. Alexandra Schneider (Quelle: HMGU)

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